In Langen und Egelsbach gab es schon seit vielen Jahrhunderten jüdische Gemeinden, die gut integriert waren. 1933 lebten 60 Juden in Egelsbach (1,6 % der damaligen Bevölkerung), für Langen sind 70 Juden belegt (0,8 %). Einige ihrer Kinder besuchten auch die damalige Realschule (Vorläufer der Dreieichschule). Vier jüdische Schülerinnen und Schüler sind im Schularchiv zu finden, die zur Zeit des dritten Reiches an unserer Schule waren. Ihre Biografien sollen kurz vorgestellt werden, in Erinnerung an die fürchterliche Shoah. Mit diesem Beitrag möchte die Dreieichschule eine schmerzliche Lücke in ihrer Schul-Chronik schließen.
Ruths Vater Gustav Strauß war im ersten Weltkrieg Soldat gewesen und wurde 1917 mit dem „Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet. Er war Kaufmann. Ruth besuchte seit Ostern (früher begann das Schuljahr nach Ostern) 1930 und ging am 24.3.1934 nach der Untertertia (8. Klasse) ab. Ruth hatte noch eine Schwester, die Ilse hieß und als Lehrerin beschäftigt war, sie verließ mit 21 Jahren Langen am 09.2.1936, um am 19.2.1936 mit der „Manhattan“ von Hamburg aus nach New York auszuwandern. Ruth folgte ihr am 7.4.1937 im Alter von 16 Jahren und kam am 17.4.1937 mit der „Hansa“ in New York an.
Trude war Tochter des Lederhändlers Arthur Neu und besuchte die Realschule in Langen von Ostern 1930 bis zum 24.3.1934 nach der Untertertia (Klasse 8).
Bei ihrem Besuch in Langen 1983 sagte sie: „Wir waren Deutsche, dann Juden, wie andere katholisch oder evangelisch waren … Und über Nacht hatten wir dann das Gefühl, dass wir keine Deutsche mehr waren … Wegen Hitler musste ich die Schule in der Untertertia verlassen. Niemand durfte mit uns sprechen, sie hatten alle Angst. Man muss den Unterschied sehen zwischen denen, die uns gehasst haben, und denen, die Angst hatten.“ Auch berichtet Trude von ihrer Großmutter, die Schreckliches erlebte: „Am 10.11.1938 war meine 78jährige Großmutter alleine zu Hause. Viele Leute kamen ins Haus und haben alles zertrümmert, haben die Kleider zerschnitten und aus meinem Klavier Feuerholz gemacht, dann alles auf den Hof geworfen. Das Innere des Hauses war ein Trümmerhaufen, Möbel und Geschirr vollständig zertrümmert.“
Trude ergriff dann den Beruf einer Kontoristin (entspricht in etwa einer heutigen kaufmännischen Angestellten) und wanderte am 19.10.1937 nach New York aus. „An einem Sonntag war ich in New York angekommen, am Montag fing ich an zu arbeiten, als Dienstmädchen, obwohl ich davon keine Ahnung hatte. Ich war ja erst zwanzig Jahre alt und ganz allein.“
Doris war Tochter des Kaufmanns und Seifensieders Semy Wolf und besuchte unsere Schule von Ostern 1931 bis zum 6.4.1935 mit Abschluss der Untertertia (Klasse 8).
Sie berichtet von ihrer Kindheit: „Ich hatte viele Freunde, darunter die Mehrzahl aus nicht-jüdischen Familien, mit denen ich problemlos spielen konnte. Mit einem Mal zogen sich die anderen Kinder zurück, denn ihre Eltern hatten Angst, dass sie selbst durch den Kontakt ihrer Sprösslinge mit mir Probleme bekämen. Aber damals hat es natürlich sehr wehgetan, völlig grundlos abgestempelt zu werden.“ Doris, die gerne Medizin studiert hätte, durfte nicht am Latein-Unterricht teilnehmen. Ein Lehrer sagte mir, dass ich sowieso nie auf eine Universität gehen würde.
Doris begann in einem jüdischen Atelier in Frankfurt eine Schneiderlehre, doch der Betrieb wurde „arisiert“ und sie musste den Betrieb verlassen. So verließ sie 1936 Langen und zog in das mütterliche Elternhaus nach Krefeld-Linn.
Weil sich 1938 die Lage für alle jüdischen Deutschen dramatisch verschärfte, erschien es den Wolfs wie eine glückliche Fügung, dass ihr Vater Semy wegen seines Wissens in Sachen Seifensiederei ein Visum für Kolumbien erhielt, seine Familie konnte er leider nicht mitnehmen. Er starb 1951 in Bogotá. Doris begab sich auf Anraten des Vaters einmal wöchentlich nach Köln zur dortigen Emigrationsstelle, um nach einer Stelle im Ausland zu suchen. Wie durch ein Wunder offerierte ihr ein englischer Pfarrer eine Stelle und sie konnte sechs Tage vor Beginn des zweiten Weltkrieges auswandern. 1946 ließ sie sich von dem Pfarrer taufen und nahm den Namen Elisabeth (von ihrer Mutter) an, auch heiratete sie und hieß dann Wilkins mit Familienname.
Ihre Mutter Else Wolf und der jüngere Bruder Walter wurden 1942 ins Ghetto Izbica in der Nähe von Lublin deportiert und vermutlich dort auch ermordet.
Erich war Sohn des Metzgermeisters Isaak Simon II und damit Nachfahre des Löser, Jud von Egelsbach. Sein Vater war zudem einer von drei Gemeindevorstehern. Erich besuchte die Realschule von Ostern 1929 bis zum 5. April 1935 und schloss mit der Untersekunda (Klasse 10) ab.
Als Adolf Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, geschah dies nur wenige Tag nach Erichs Bar Mizwa (Fest, bei dem die 13jährigen als vollwertige Mitglieder in die jüdische Gemeinde aufgenommen werden). Während des Dritten Reiches fühlte sich Erich verloren und wie ein Aussätziger, so berichtete seine Frau 2008 auf einer Gedenkfeier 70 Jahre nach der Reichsprogromnacht.
Am 4.5.1937 emigrierte Erich in die Vereinigten Staaten und wurde Ingenieur, er wurde Repräsentant der Petrochemie und hatte als Privatmann in Mexiko eine Fabrik mit 1000 Mitarbeitern errichtet. Dort produzierte er aus Abfallstoffen der Ölraffinerien Wasserleitungs- und Gasrohre.
1968 kehrte Erich zum ersten Mal wieder nach Egelsbach zurück und blieb der Gemeinde freundschaftlich verbunden. Nach seinem Tod wurde er bei seinen Ahnen auf dem jüdischen Friedhof in Egelsbach beigesetzt.
Dr. Paul Schlöder