Zeitzeugen-Gespräch mit Eva Szepesi

Am vergangenen Donnerstag, dem 27. Januar 2022, jährte sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau zum 77. Mal und international wird seit 2005 an diesem Tag den Opfern des Holocaust gedacht.

Einer der Grundkurse Geschichte des Jahrgangs Q1 unserer Schule bekam an diesem besonderen Tag eine ganz besondere Einladung, die eine einmalige Möglichkeit darstellte. Im Rahmen einer einwöchigen Sonderausstellung im Horváth-Zentrum, der Gedenkstätte der ehemaligen KZ-Außenstelle Walldorf, hat unser Kurs die Möglichkeit erhalten, am 27. Januar ein Zeitzeugengespräch mit der Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi zu führen.

Eva Szepesi ist ungarische Jüdin. Sie kommt im September 1932 zur Welt, lebt mit ihrer Familie in Budapest und wächst - das wird die heute fast 90-Jährige nicht müde zu betonen - in einer sehr liebevollen und behüteten Atmosphäre auf. Als im März 1944 Ungarn, das bis dato Verbündeter des Deutschen Reichs gewesen ist und sich wegen der drohenden Kriegswende den Alliierten zuwendete, vom Nazi-Regime besetzt wird, beginnen unter der Leitung Adolf Eichmanns die Deportationen der ungarischen Juden nach Auschwitz. Auch in den Jahren zuvor sind Eva, die damals noch den Nachnamen Diamant trägt, und ihre Familie von antisemitischen Angriffen und Gesetzen betroffen. Vom einen auf den anderen Tag, so schildert es Frau Szepesi, habe sie Ausgrenzung von Menschen erfahren, die gestern noch ihre Freunde gewesen waren. Sofort als die Deutschen Ungarn besetzten, trifft Evas Mutter eine folgenschwere Entscheidung: Sie schickt ihre 11 Jahre alte Tochter allein mit einer Tante auf die Flucht in die Slowakei. Letztlich ist es vermutlich diese Entscheidung, die dem Mädchen Eva das Leben rettet; es ist aber auch eine Entscheidung, die bedeutet, dass das Mädchen seine Familie nicht wiedersehen wird. Eindrücklich schildert Eva Szepesi die Verabschiedung von ihrer Mutter und man hat das Gefühl, dass sie den Moment erneut durchlebt. Da ihre Mutter sie nicht über den wahren Hintergrund ihrer „Reise in die Slowakei“ unterrichtet hat, verabschiedet Eva sich in der Gewissheit, dass ihre Mutter Valery und ihr kleiner Bruder Tamás bald nachkommen werden. Zu Fuß fliehen Eva und ihre Tante durch den Wald in die Slowakei, dort angekommen sind sie aber nicht in Sicherheit. Eva muss immer weiterziehen, von einem Versteck zum nächsten, sie verliert ihre Tante und wird im Herbst 1944 schließlich von den Deutschen aufgegriffen, in ein Sammellager transportiert und schließlich mit zahlreichen anderen im Viehwaggon in das Todeslager Auschwitz deportiert. Dort schafft sie es, drei Monate unter für uns unvorstellbaren Bedingungen zu überleben; von den Aufsehern gedemütigt, in stundenlangem Appell-Stehen mürbe gemacht und unterernährt lässt sie vor allem der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihrer Familie überleben. Als Anfang 1945 die Rote Armee immer weiter Richtung Westen vorrückt, werden in Auschwitz die Gaskammern gesprengt und alle Häftlinge, die noch irgendwie laufen können, mit auf einen der sogenannten Todesmärsche genommen. Eva ist zu der Zeit schon sehr krank. Mehr tot als lebendig wird sie im Lager zurückgelassen und von einem anderen Lagerinsassen mit ein bisschen Schnee am Leben gehalten. Den Tag der Befreiung, den 27. Januar 1945, als sich ein russischer Soldat über das kleine Mädchen und sich dessen „wunderschöne“ Pelzmütze für immer in ihr Gedächtnis einbrennt, diesen 27. Januar nennt Eva Szepesi im Gespräch ihren zweiten Geburtstag. Auf den Tag genau 77 Jahre später hören wir heute ihre Geschichte. Doch ihre Geschichte ist mit der Befreiung noch nicht zu Ende: Eva Szepesi erzählt, wie sie zurück nach Budapest kommt, immer fest daran glaubend, dass auch ihre Mutter und ihr kleiner Bruder den Weg nach Hause finden; sie erzählt, dass sie erst 2016 Gewissheit darüber erlangen wird, dass die beiden ein halbes Jahr vor ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau in den Gaskammern der Todesfabrik ermordet worden sind; sie erzählt, wie sie ihre eigene Familie gründet, um ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit zu stillen; und sie erzählt, wie sie das Schicksal nach Deutschland, ein Land, das sie nie wieder besuchen wollte, verschlagen hat, nach Frankfurt am Main, wo sie seit 1954 lebt. Bis 1995 hat sie über ihr Schicksal geschwiegen. Erst als sie gemeinsam mit ihren Töchtern Judith und Anita an der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreiung in Auschwitz teilnimmt, bricht sie ihr Schweigen. Seitdem ist sie unermüdlich im Einsatz, um jungen Menschen als Zeitzeugin ihre Lebensgeschichte zu erzählen, zu denen auch wir dankbarerweise gehören dürfen.

Heß

Schüler*innen-Statements

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Ich habe vor diesem Gespräch noch nie einen Holocaust-Überlebenden getroffen und hatte daher großen Respekt vor dem Gespräch. Bisher waren Erzählungen über meinen Uropa, der Kriegsgefangener war, und [...]
„Ich habe vor diesem Gespräch noch nie einen Holocaust-Überlebenden getroffen und hatte daher großen Respekt vor dem Gespräch. Bisher waren Erzählungen über meinen Uropa, der Kriegsgefangener war, und ein Besuch des KZ bei Straßburg meine engsten Begegnungen mit dieser Thematik, die mich bereits sehr geschockt und geprägt haben. Das Gespräch mit Frau Szepesi hat mir eine neue Sicht auf die damaligen Geschehnisse ermöglicht, die sich aufgrund ihrer persönlichen Eindrücke und Gefühle und vor allem ihrer Art zu erzählen völlig von dem unterscheidet, was ich bisher aus dem Unterricht oder Dokumentationen für mich mitgenommen habe. Besonders beeindruckt hat mich ihre Person selbst. Sie erzählte von den schrecklichen Dingen, die ihr zugestoßen sind und dennoch strahlte sie während des gesamten Gesprächs gewiss Trauer aber auch Hoffnung und eine große Lebensfreude aus. Am Ende des Gesprächs ging man mit einer gewissen Leere nachhause, da ihr und vielen anderen so schreckliche Dinge widerfahren sind und man nichts anderes tun kann, als aufzupassen, dass künftig nie wieder so etwas passiert. Ich denke, dass dieses Gespräch etwas ist, woran ich noch oft zurückdenken werde.“
Während Eva Szepesi ihre Geschichte berichtet hat, was es kaum vorstellbar, dass sie in dem Moment vor uns sitzt und dieselbe Person ihrer grausamen Geschichte ist. Ich habe zuhause gesagt, dass ich noch nie [...]
„Während Eva Szepesi ihre Geschichte berichtet hat, was es kaum vorstellbar, dass sie in dem Moment vor uns sitzt und dieselbe Person ihrer grausamen Geschichte ist. Ich habe zuhause gesagt, dass ich noch nie einer Person so aufmerksam, so lange zugehört habe. Es war berührend zu sehen, wie Eva Szepesi in manchen Momenten innehalten musste, um weiter zu berichten. Ich finde es bemerkenswert, wie offen sie mit ihrer Vergangenheit umgegangen ist und vor allem auch, dass sie ihre Empfindungen und Gefühle, welche sie in ihren schrecklichsten Momenten hatte, mit uns geteilt hat.“
Die spannende und traurige Lebensgeschichte der Zeitzeugin endete mit einer stillen Fahrt nach Hause, da niemand wusste, was man sagen soll. Ich habe unglaublichen Respekt vor Frau Szepesi, den Mut zu haben darüber [...]
„[…] Die spannende und traurige Lebensgeschichte der Zeitzeugin endete mit einer stillen Fahrt nach Hause, da niemand wusste, was man sagen soll. Ich habe unglaublichen Respekt vor Frau Szepesi, den Mut zu haben darüber zu sprechen und ihre schrecklichen Erfahrungen mit uns Schülern zu teilen. Die Tatsache, im sehr jungen Alter von der Familie getrennt zu werden und 70 lange Jahre unwissend, dass die Mutter in Ausschwitz ihr Leben ließ, auf ihre Rückkehr zu hoffen, war für mich wahnsinnig schockierend. Trotz ihrer unbeschreiblich schlimmen Erfahrung musste Eva Szepesi einmal lächeln und lachen, was mir viel bedeutet und mich freute. Zum Schluss bin ich Frau Szepesi einfach nur dankbar, dass sie sich uns Schülern geöffnet hat, denn [ihr Schicksal] muss gehört werden und darf nicht in Vergessenheit geraten.“
Das Zeitzeugengespräch mit Frau Szepesi war eines der interessantesten und bewegendsten persönlichen Gespräche, die ich jemals hatte. Als sie erzählte, fühlte es sich zu sehr an, als würde eine [...]
„Das Zeitzeugengespräch mit Frau Szepesi war eines der interessantesten und bewegendsten persönlichen Gespräche, die ich jemals hatte. Als sie erzählte, fühlte es sich zu sehr an, als würde eine fiktive dystopische Geschichte erzählt werden. Leider musste ich mir dauern bewusst machen, dass das, was mir gerade fast schon selbstverständlich erzählt wird, wahr [..] ist.“
Sogar die Menschen, die Frau Szepesi einst als „Freunde“ bezeichnete, drohten ihr und erfreuten sich an ihrer Angst. […] Während ihrer bildhaften Erzählung war ich hauptsächlich angewidert über die [...]
„Sogar die Menschen, die Frau Szepesi einst als „Freunde“ bezeichnete, drohten ihr und erfreuten sich an ihrer Angst. […] Während ihrer bildhaften Erzählung war ich hauptsächlich angewidert über die Grausamkeiten, welche Frau Szepesi erfahren musste. Der vermeintliche Spaß, den die Akteure dabei empfanden, ist für mich einfach abstoßend. Jemanden ohne jegliche Rechtfertigung der Freiheit zu berauben ist keineswegs vertretbar, aber sich dann auch noch dessen zu belustigen und Menschen schamlos zu erniedrigen, ist so dermaßen abscheulich, dass keine Begriffe der deutschen Sprache dies auch nur im Ansatz beschreiben könnten.“
Eva Szepesi sitzt an einem kleinen Tisch. Sie sieht aus wie eine normale ältere Frau, als könnte sie die Großmutter einer meiner Mitschüler sein. Wenn ich ihr auf der Straße begegnet wäre, hätte ich nicht weiter [...]
„Eva Szepesi sitzt an einem kleinen Tisch. Sie sieht aus wie eine normale ältere Frau, als könnte sie die Großmutter einer meiner Mitschüler sein. Wenn ich ihr auf der Straße begegnet wäre, hätte ich nicht weiter über sie nachgedacht. Aber jetzt sitzt sie hier. Vor ihr liegt ihre Biographie und sie blickt durch ihre Brillengläser zur Museumsleiterin des Horváth-Zentrums. Ich weiß was Frau Szepesi widerfahren ist und deshalb fühlt es sich eigenartig an, sie jetzt hier an dem kleinen Tisch sitzen zu sehen. Alle Anwesenden sprechen mit gedämpfter Stimme und ich habe das Gefühl, dass jede Bewegung, die ich mache, unangebracht ist. Museumsleiterin Frau Rühlig, eine imposante Person, neben der Eva Szepesi noch unscheinbarer aussieht, steht vorne und bricht die Ruhe mit einer Ansprache. Sie stellt die Zeitzeugin vor und übergibt an Herrn Urhahn, der auch noch kurz etwas sagt, bevor die Aufmerksamkeit aller Anwesenden endlich auf Eva Szepesi ruht. Jetzt ist es komplett still im Raum. Die Zeitzeugin beginnt zu erzählen. Sie liest viel aus ihrer Biographie vor. Wenn sie das tut, erinnert sie mich noch mehr an eine ältere Dame, die ihren Enkelkindern eine Geschichte vorliest. Aber die Worte, die aus ihrem Mund kommen, passen nicht zu diesem Bild. Erst recht nicht, wenn sie Ergänzungen macht und dabei die Zuhörer anblickt. Was Frau Szepesi erzählt, klingt wie aus einem fiktiven Roman und die Tatsache, dass so vielen Menschen diese Dinge tatsächlich widerfahren sind, ist für mich nicht fassbar. Ich bemühe mich, der Zeitzeugin so aufmerksam wie nur möglich zuzuhören, denn ich weiß, wie wichtig es ist, dass ihre Erfahrungen nicht in Vergessenheit geraten. Sie bittet uns mehrmals darum, dass wir ihre Geschichte als „Zeugen der Zeitzeugen“ weitererzählen und am Leben halten. Als sie fertig ist, sitzen alle für einen Moment schweigend da und ich habe das Verlangen Frau Szepesi zu umarmen. Ich bin unbeschreiblich dankbar für das Zeitzeugengespräch. Ich denke es war das wichtigste Ereignis, bei dem ich in meinen 17 Lebensjahren anwesend sein durfte. An Eva Szepesi: Wir alle werden ihre Geschichte in unseren Köpfen behalten und sie anderen erzählen. Danke für ihre Kraft, ihren Mut und ihre Zeit, die sie aufgebracht haben, um an dem kleinen Tisch zu sitzen und uns ihre Geschichte zu erzählen.“
glaube, ich habe mir in den letzten Tagen mehr und tiefgreifender Gedanken über den Holocaust gemacht als jemals zuvor in meinem Leben. Und das, obwohl ich schon 18 Jahre als bin und die [...]
„Ich glaube, ich habe mir in den letzten Tagen mehr und tiefgreifender Gedanken über den Holocaust gemacht als jemals zuvor in meinem Leben. Und das, obwohl ich schon 18 Jahre als bin und die Thematik bereits oft in der Schule angesprochen wurde und ich viele Dokumentationen und Spielfilme über die Verbrechen der NS-Zeit geschaut habe. Nichtsdestotrotz ist mir dieses Thema noch nie näher gegangen als in dieser einen kurzen Stunde, in der ich Frau Szepesi zuhören durfte. Ich glaube, erst in diesem Moment auch nur annähernd realisiert zu haben, dass der Holocaust nicht nur ein Massenmord war, sondern Millionen von gezielten Morden, an Millionen von Menschen, mit ihren ganz eigenen Lebenswegen und Schicksalen. Ich glaube, erst beim Zuhören richtig begriffen zu haben, dass es eben nicht ein Kollektiv war, das vernichtet wurde - keine graue, identitätslose Masse, sondern viele verschiedene Menschen, mit ihren ganz eigenen Träumen und Wünschen, Ängsten und Schreckenserlebnissen. Und eine davon war Eva Szepesi. Durch das Teilen ihrer grausamen Erfahrungen wurde mir eben das bewusst. Dass sie weitaus mehr ist als Opfer und zugleich Überlebende der NS-Verbrechen. Sie war ein kleines, verspieltes, verängstigtes und unfassbar starkes Mädchen. Sie ist eine trauernde Tochter und Schwester. Eine liebende Mutter und Großmutter. Ich habe in dieser Stunde mehr gelernt und gefühlt, was es bedeutet haben muss, die Schrecken des Holocaust zu durchleben, als in allen Schulstunden, in denen das Thema angesprochen wurde. Und das nicht, weil die Lehrkräfte einen schlechten Job machen, sondern weil es schier unmöglich ist, die Geschehnisse wirklich zu realisieren und zu verarbeiten. Auch nachdem ich jetzt aus erster Hand gehört habe, was den Menschen angetan wurde und wie es war, in Auschwitz gefangen gewesen zu sein, denke ich nicht, dass ich jemals in der Lage sein werde, dies wirklich zu realisieren oder auch nur im Ansatz nachvollziehen zu können. Dennoch war das Zeitzeugengespräch einer der berührendsten Momente in meinem Leben und hat mir geholfen, zu verstehen, dass hinter der erschreckend großen Zahl von Opfern viele Millionen Einzelschicksale stehen.“
Das Zeitzeugen-Gespräch war für mich eine einzigartige Erfahrung, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde. Zu Beginn des Tages, las Eva Szepesi aus ihrem Buch vor und ergänzte an [...]
„Das Zeitzeugen-Gespräch war für mich eine einzigartige Erfahrung, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde. Zu Beginn des Tages, las Eva Szepesi aus ihrem Buch vor und ergänzte an manchen Stellen aus ihren Erinnerungen das Beschriebene. Besonders schlimm empfand ich die Irrfahrt, die sie durchmachte, bevor sie von den Nazis gefunden wurde, insbesondere der Gedanke, ihre Mutter wieder zu sehen, hielt sie noch am Leben. Deshalb empfand ich es als besonders traurig, zu erfahren, dass ihre Mutter auch in Auschwitz ums Leben kam. […] Zusätzlich schockierte mich, wie wenig sich die Wärter um das Schicksal ihrer Häftlinge kümmerten, sie behandelten die Inhaftierten wie Ware, die auf einem Fließband immer weitergeschickt werden muss, jegliche Spur von Menschlichkeit war verschwunden. Im Anschluss an das Gespräch habe ich mir noch die KZ-Außenstelle Walldorf angeschaut, wir bekamen erklärt, dass hier junge Frauen bei jedem Wetter für den Flughafen in Frankfurt arbeiten sollten, in ihren Sommerkleidern aus Auschwitz. Dies schockierte mich ebenfalls, denn jeder der Teilnehmer fror selbst in dicken Winterjacken, unvorstellbar, wie die Kälte für die Frauen gewesen sein muss. Nach dem Tag war ich erst mal betrübt und erschüttert. Obwohl man weiß, was in Auschwitz für Taten passierten, löst es eine ganz andere Reaktion in einem aus, wenn jemand aus der Ich-Perspektive seine persönlichen Erfahrungen teilt, dementsprechend dankbar bin ich für die Erfahrung, denn so wird man die Taten wirklich nie vergessen.“